EU-Mercosur: Wissenschaftler*innen kritisieren Abkommen als ökologisch und sozial nicht nachhaltig (Presseaussendung, 14.07.2023)
Expert*innen
Univ.-Prof. Dr. Ulrich Brand
(Universität Wien)
Assoz. Prof. Mag. Dr. Franz Essl
(Universität Wien)
Univ.-Prof. Dr. Helmut Haberl
(BOKU).
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Marianne Penker
(BOKU)
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Pressemitteilung
14. Juli 2023
Vor dem EU-Lateinamerika Gipfel
Wissenschafter:innen mahnen: EU-Mercosur-Abkommen ökologisch und sozial nicht nachhaltig
[Wien, 14. Juli 2023] Vom EU-Lateinamerika-Gipfel, der am 17.und 18. Juli in Brüssel stattfindet, erhofft sich die EU-Kommission frischen Wind für die Verhandlungen um das EU-Mercosur-Abkommen, das die EU unbedingt noch dieses Jahr abschließen will. Im Vorfeld des Gipfels, an dem hochkarätige Politiker:innen wie die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder der brasilianische Staatschef Lula da Silva teilnehmen werden, kritisieren renommierte Wissenschafter:innen in einer Presseaussendung von „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“ das Abkommen. Auf Basis neuer Forschungsergebnisse argumentieren sie, dass der bestehende Entwurf Umwelt- und Sozialstandards unterlaufen und die Ziele der EU zu einem nachhaltigen Wirtschaftsumbau konterkarieren würde. Der österreichischen Bundesregierung empfehlen sie, an ihrem „Nein“ zum Abkommen festzuhalten.
Seit 1999 wird das Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Ländern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay verhandelt. Die EU-Kommission will es so schnell wie möglich finalisieren, obwohl mehrere EU-Mitgliedsstaaten dem Abkommen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. In Österreich hat das Parlament die Regierung zu einem Nein verpflichtet. Doch auch in den Partnerländern Lateinamerikas ist das Abkommen umstritten, außerdem gibt es großen zivilgesellschaftlichen Widerstand. Vom EU-Lateinamerika-Gipfel erhofft sich die EU-Kommission, dennoch den Grundstein für eine Einigung zu legen.
Mercosur steht für Mercado Común del Sur; Gemeinsamer Markt des Südens. Mit dem Abkommen sollen in den kommenden Jahren vor allem die Zölle gesenkt werden. Industrieprodukte aus Europa – insbesondere Autos, Maschinen und Chemieprodukte wie etwa Pestizide – und landwirtschaftliche Güter und Bergbauprodukte aus Lateinamerika werden ohne Zölle billiger. Weiters sollen europäische Dienstleistungskonzerne sich besser an öffentlichen Ausschreibungen in den Mercosur-Ländern beteiligen können, was lokale und kleinere Anbieter benachteiligen dürfte.
Doch genügt der derzeitige Entwurf des Abkommens in keiner Weise den Anforderungen an eine zeitgemäße Handelspolitik. Es ist noch vollständig vom Geist der marktradikalen Handelspolitik des letzten Jahrhunderts durchdrungen, der wirtschaftliche Expansion auf dem Weltmarkt über ökologische Risiken und menschenrechtliche Bedenken stellt. Das zeigt auch eine 2021 in der Fachzeitschrift Sustainability veröffentlichte Studie, in der mehrere Freihandelsabkommen untersucht werden.
Univ.-Prof. Dr. Helmut Haberl vom Institut für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur hat angesichts der verschärften geostrategischen Spannungen, etwa infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine sowie der immer stärkeren Abhängigkeit von Autokratien wie China durchaus Verständnis für Versuche Europas, seine Handelsbeziehungen mit anderen Regionen wie etwa Lateinamerika zu intensivieren. Doch dabei müssten ökologische und soziale Standards eingehalten werden: „In seiner derzeitigen Form mangelt es dem Mercosur-Abkommen samt der geplanten Zusatzvereinbarung – soweit diese bekannt ist – an Transparenz und echter Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Auch die Regelungen zur Überprüfung der Einhaltung von ökologischen Standards und der Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen sind ungenügend“, sagt Haberl. „Ein zentrales Problem beim Handel mit Agrarprodukten aus Lateinamerika besteht darin, eine weitere Entwaldung hintanzuhalten, und zwar nicht nur im Amazonas, sondern auch in anderen Regionen, etwa im Gran Chaco, wo eine massive Ausweitung von Agrarproduktion für den Export zu beobachten ist“, gibt Haberl zu bedenken.
Mit dem Handelsabkommen wird durch umweltschädlich und sozial ausbeuterisch erzeugte Agrarimporte das Umschwenken auf eine nachhaltige Lebensmittelversorgung in Europa – Ziel des European Green Deals und der Farm-to-Fork Strategie der EU-Kommission – erschwert und torpediert. „Über die Verlagerung umweltschädlicher Produktionen in Länder des globalen Südens, wie dies das EU-Mercosur-Abkommen vorantreibt, kann der ökologische Fußabdruck nicht gesenkt werden – zumindest, wenn man die in der Wissenschaft inzwischen übliche Miteinberechnung der Importe berücksichtigt“, sagt Univ.-Prof. Dr. Marianne Penker vom Institut für Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung der Universität für Bodenkultur.
Eine Studie der Universität São Paulo belegt, dass 30 % der 2017 in Brasilien zugelassenen Pestizidwirkstoffe in der EU verboten oder nicht zugelassen sind. Dorthin exportiert werden können sie jedoch von europäischen Produzenten weiterhin. Während der österreichische Nationalrat 2019 ein Verbot von Glyphosat beschlossen hat, stieg in Ländern wie Argentinien oder Brasilien der Einsatz gentechnisch veränderter Glyphosat-toleranter Nutzpflanzen. Brasilien liegt gemessen an der konsumierten Menge an Agrargiften weltweit auf Platz eins. In Argentinien ist mit sechs Kilogramm Glyphosat pro Einwohner*in die Exposition von Glyphosat am höchsten, gefolgt von Brasilien mit drei Kilogramm. Während wir gesunde Lebensmittel hochhalten, leiden die Betroffenen in den Anbauregionen des Mercosur unter Gesundheitsschäden und Wasserverseuchung.
Das EU-Mercosur-Abkommen würde in seiner derzeitigen Form eindeutig zu Lasten der Natur und indigener Gemeinschaften in Südamerika gehen. Wie eine im Jahr 2022 in Nature Communications veröffentlichte Studie unter Beteiligung des Ökologen Franz Essl zeigte, ist schon heute die intensive und großflächige Landwirtschaft in Südamerika ganz massiv am dortigen Artenverlust beteiligt. Der Biodiversitätsforscher von der Universität Wien und österreichischer Wissenschaftler des Jahres 2022 sagt: „Der Haupttreiber dieser Entwicklung ist die Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten auf dafür gerodeten Waldflächen für den Export, etwa Soja, in dem die EU nur einen geringen Selbstversorgungsgrad hat. Das EU-Mercosur Abkommen würde diese Situation noch weiter verschlechtern“, so Essl.
Bereits 2019 kritisierten über 600 europäische Wissenschafter*innen in einem in der Zeitschrift Science veröffentlichten Aufruf, dass die EU 2017 mehr als drei Milliarden Dollar für Eisenerzimporte ausgab. Die 2011 importierten Fleischlieferungen entsprachen der Entwaldung von mehr als 10.000 km2, also in etwa der Fläche von Kärnten. Neben den verheerenden Umweltauswirkungen geht mit der Entwaldung und dem Ausbau von landwirtschaftlichen Anbauflächen und Bergbauprojekten die menschenrechtswidrige Verdrängung indigener Bevölkerungsgruppen einher. Das würde mit dem EU-Mercosur-Abkommen weiter verschlimmert werden.
Das EU-Mercosur-Abkommen ist als Assoziierungsabkommen aufgesetzt, in dem Kapitel über Nachhaltigkeitsfragen enthalten sind. Nun wird eine Zusatzvereinbarung verhandelt, über die der Schutz des Klimas, der Umwelt und von Menschenrechten sichergestellt werden soll. Die EU will damit der Kritik begegnen, dass durch das Abkommen der Amazonas-Regenwald weiter abgeholzt sowie Arbeits- und Sozialstandards unterwandert würden. Jedoch wurde schon 2021 in einem Rechtsgutachten aufgezeigt: Die gravierenden Mängel des EU-Mercosur-Abkommens bei Klima-, Umweltschutz und Menschenrechten können durch zusätzliche Vereinbarungen nicht ausgemerzt werden. Stattdessen bedarf es in dem Abkommen verbindlicher Verpflichtungen und eines Streitschlichtungsverfahrens, das bei Verstößen Sanktionen ausspricht, sonst werden die wirtschaftlich starken Akteure sich einseitig mit ihren Interessen durchsetzen. Weiterhin müssen alle Kapitel des Abkommens einer strikten Nachhaltigkeitsprüfung unterzogen werden.
„Die politischen Regeln für den internationalen Handel müssen neu aufgesetzt werden und dabei auf hohen Standards für Umwelt und Soziales beruhen. Aktuell ist das Problem: Das EU-Mercosur-Abkommen soll über Zollabbau und andere Instrumente mehr Handelsströme und Marktzugang ermöglichen, doch damit gewinnen vor allem die mächtigen transnational agierenden Unternehmen in Industrie, Landwirtschaft, Bergbau und Dienstleistungssektor. EU-Mercosur setzt auf das Recht der Stärkeren – ohnehin schon benachteiligte Gruppen werden darunter leiden“, so Ulrich Brand, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Wien und Aufsichtsratsvorsitzender der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE).
Häufig wird das Argument ins Feld geführt, dass die EU mit einem Abkommen verhindern würde, dass China in Lateinamerika noch einflussreicher würde. „Das Argument ist nicht stichhaltig, weil China ja so oder so Handel mit den Ländern des Mercosur betreibt“, so Professor Brand, der auch den Forschungsverbund Lateinamerika an der Universität Wien leitet. „Im Gegenteil: Die EU hätte die Chance, mit einem fairen und ökologischen Abkommen voranzugehen und so andere Handelspartner wie China oder die USA unter Druck zu setzen. Für die Wirtschaften in Lateinamerika und Europa wäre das eine Win-win-Situation gegen die immer weitere ökologische Zerstörung und gegen soziale Probleme, für den Aufbau solidarischer und zukunftsfähiger Wirtschaftsbeziehungen. Und die EU könnte ihr ambitioniertes Ziel unterstützen, eine ökologische Kreislaufwirtschaft aufzubauen, wenn sie keine Handelspolitik aus dem vergangenen Jahrhundert, sondern solidarische und zukunftsweisende Handelspolitik betreibt. Das ist auch wichtig, weil Länder wie Österreich zu einer starken Reduktion des Ressourcenverbrauchs kommen müssen.“
Insofern lassen sich aus wissenschaftlicher Sicht evidenzbasierte Einwände gegen dieses Handelsabkommen vorbringen. „Die österreichische Regierung sollte daher von der Ablehnung des Abkommens, zu der sie sich vor unserem demokratisch gewählten Parlament verpflichtet hat, nicht abweichen“, empfiehlt Professor Brand abschließend.
Referenzen:
1 Heyl, K., Ekardt, F., Roos, P., Stubenrauch, J., Garske, B. (2021): Free Trade, Environment, Agriculture, and Plurilateral Treaties: The Ambivalent Example of Mercosur, CETA, and the EU–Vietnam Free Trade Agreement. In: Sustainability, Volume 13, no. 6: 3153. https://doi.org/10.3390/su13063153
Baumann, M., Gasparri, I.,. et al. (2022): Frontier metrics for a process-based understanding of deforestation dynamics
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2 Pratzer, M., Fernández-Llamazares, Á., Meyfroidt, P. Krueger, T., Baumann, M., Garnett, S., Kuemmerle, T. et al. (2023): Agricultural intensification, Indigenous stewardship and land sparing in tropical dry forests. In: Nat Sustain (2023). https://doi.org/10.1038/s41893-023-01073-0
3 Mies Bombardi, L. (2019): A geography of agrotoxins use in Brazil and its relations to the European Union, Universidade de São Paulo (USP), São Paulo 2019: http://www.livrosabertos.sibi.usp.br/ portaldelivrosUSP/catalog/book/352
4 Semenchuk, P., Plutzar, C., Kastner, T., Matej, S., Bidoglio, G., Erb, K., Essl, F., Haberl, H., Wessely, J., Krausmann, F., Dullinger, S. (2022): Relative effects of land conversion and land-use intensity on terrestrial vertebrate diversity. Nat Commun 13, 615 (2022). https://doi.org/10.1038/s41467-022-28245-4
5 Kehoe, L., Reis, T., Virah-Sawmy, M., Balmford, A., Kuemmerle, T. & 604 signatories (2019): Make EU trade with Brazil. In: sustainable: 26. Apr 2019.Vol 364, Issue 6438: https://science.sciencemag.org/content/364/6438/341.1
6 Hoffmann, R., Krajewski, M. (2021): Rechtsgutachten und Vorschläge für eine mögliche Verbesserung oder Neuverhandlung des Entwurfs des EU-Mercosur-Assoziierungsabkommens. https://www.anders-handeln.at/wp-content/uploads/downloads/2021/05/Rechtsgutachten-EU-Mercosur_DE_final.pdf
https://drive.google.com/file/d/1IAGwXJHj5X2kDBA1IkbwNyqyTxDx5Iv9/view