Reformbedarf beim Arbeitslosengeld?
Expert*innen:
Karin Heitzmann (WU Wien)
Helmut Mahringer (WIFO)
Oliver Picek (Momentum Institut)
Stefan Vogtenhuber (IHS)
Andrea Weber (CEU)
Welche Implikationen ergeben sich vor dem Hintergrund der genannten Problemlagen der Alters- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie der Prekarisierung von Arbeit für eine Reform des Arbeitslosengeldes? Diesen Fragen wird im folgenden Teil nachgegangen.
Armut und Arbeitslosigkeit: eine unheilige Allianz
Evidenz aus der Armutsforschung belegt sehr eindrücklich eine enge Korrelation zwischen dieser Benachteiligung und dem Vorliegen von Arbeitslosigkeit, stellt Karin Heizmann von Wirtschaftsuniversität Wien fest. Dabei gelte: „je länger die Arbeitslosigkeit dauert, desto höher wird das individuelle Risiko, auch unter Armutsgefährdung zu leiden.“
Nach den aktuellsten Ergebnissen des EU-SILC für Österreich (Statistik Austria 2021) waren 2019 – also vor der Pandemie – etwa 13% der Personen im Erwerbsalter zwischen 18 und 64 Jahren armutsgefährdet. Unter jenen, die 2019 zwischen einem und fünf Monaten arbeitslos waren, war schon ein knappes Fünftel armutsgefährdet. Dauerte die Arbeitslosigkeit zwischen sechs und elf Monaten an, war ein knappes Drittel armutsgefährdet und unter den ganzjährig Arbeitslosen schon mehr als die Hälfte. Geringes Einkommen zieht weitere Benachteiligungen nach sich, legt Heizmann dar. So seien etwa 40% der ganzjährig Arbeitslosen auch materiell depriviert gewesen – im Vergleich zu 6% im Durchschnitt der Gruppe der Personen im Erwerbsalter.
Vor dem Hintergrund der engen Korrelation zwischen Armutsgefährdung, Deprivation und Arbeitslosigkeit seien daher die materiellen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung immer auch im Hinblick auf ihren Beitrag zur Reduktion von Armut zu bewerten. Dabei weisen die durchschnittlichen Tagsätze des Arbeitslosengelds und der Notstandshilfe (AMS 2020) für Heizmann darauf hin, dass der Beitrag dieser Sozialleistungen zur Armutsbekämpfung gering ist. Maßnahmen zur Erhöhung der Lohnersatzraten, insbesondere bei länger andauernder Arbeitslosigkeit, würden damit einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion von Armuts- und Deprivationsrisiken der Arbeitslosen und ihrer Familien bedeuten.
Quellen:
Heitzmann, Karin (2021): Vortrag: „Armut und Arbeitslosigkeit: eine unheilige Allianz“, URL: https://www.soz.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_soziologie/4_Veranstaltungen/4.0_Veranstaltungen/2021/Reformbedarf_am_Arbeitsmarkt/heitzmann.mp4
AMS 2020: Notstandshilfe, URL: https://www.ams.at/arbeitsuchende/arbeitslos-was-tun/geld-vom-ams/notstandshilfe, zuletzt abgerufen am 09.02.2021
Gestaltung von Arbeitsanreizen in der Arbeitslosigkeit – Argumentationen und Evidenzen
Die österreichische Arbeitslosenversicherung (ALV) ist in ein Gesamtsystem der aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitik eingebettet, das mit fördernden und fordernden Elementen soziale Absicherung bietet, die Reintegration in Beschäftigung unterstützt und einer Überbeanspruchung von Leistungen entgegengewirkt, sagt Helmut Maringer vom WIFO. Beschäftigungschancen und -anreize würden darin nicht in erster Linie von der Gestaltung des Arbeitslosengeldes – etwa über einen degressiven Verlauf – oder einem strengeren Regime bei Sperren des Arbeitslosengeldes beeinflusst (Eppel et al, 2016). Wirkungsanalysen für Österreich weisen für Mahringer vielmehr auf hohe Potentiale einer intensivierten Beratung und Vermittlung Arbeitsloser[1] sowie unterschiedlicher bildungs- und beschäftigungsfördernder Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik hin, Beschäftigungschancen zu verbessern, auch und besonders für Langzeitbeschäftigungslose (Eppel et al, 2017). Zudem könne eine integrationsfreundlichere Gestaltung von Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose (Eppel & Mahringer, 2019) deren Reintegration erleichtern, so Mahringer. Im Gegensatz zu Beschäftigungsanreizsystemen für Arbeitslose spielen mögliche Schritte zur Reduktion der Arbeitslosigkeit durch Anreize für Unternehmen, wie etwa eine risikoabhängige Gestaltung der ALV-Beiträge (Eppel & Mahringer, 2020) ebenso wie andere präventive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, in der Diskussion zu Reformen der Arbeitslosenversicherung häufig eine untergeordnete Rolle.
Quellen:
Mahringer, Helmut (2020): Vortrag „Gestaltung von Arbeitsanreizen in der Arbeitslosigkeit – Argumentationen und Evidenzen“, URL: https://www.soz.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_soziologie/4_Veranstaltungen/4.0_Veranstaltungen/2021/Reformbedarf_am_Arbeitsmarkt/mahringer-converted.mp4, zuletzt abgerufen am 11.02.2022
Eppel, R., Fink, M., Mahringer, H., Die Wirkung zentraler Interventionen des AMS im Prozess der Vermittlung von Arbeitslosen, WIFO-Monographien, April 2016, 106 Seiten, https://www.wifo.ac.at/publikationen/studien?detail-view=yes&publikation_id=59029
Böheim, R., Eppel, R., Mahringer, H. (2017) Die Auswirkungen einer Verbesserung der Betreu-ungsrelation für Arbeitslose in der Arbeitsvermittlung des AMS. Ergebnisse eines kontrollier-ten Experiments des AMS Österreich in der Beratungszone der RGS Esteplatz in Wien, WIFO-Monographien, 104 Seiten,
Eppel, R., Mahringer, H., Sauer, P. (2017) Österreich 2025 – Arbeitslosigkeit und die Rolle der aktiven Arbeitsmarktpolitik, WIFO-Monatsberichte, 2017, 90(6), S. 493-505, https://www.wifo.ac.at/jart/prj3/wifo/resources/person_dokument/person_doku-ment.jart?publikationsid=60518&mime_type=application/pdf
Eppel, R., Mahringer (2019) H. Getting a lot out of a little bit of work? The effects of marginal employment during unemployment. Empirica 46, 381–408 (2019). https://doi.org/10.1007
Eppel, R., and Mahringer, H. (2020) Die Chancen und Risiken eines Experience rating in der Arbeitslosenversicherung, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, vol. 21, no. 1, 2020, pp. 90-104. https://doi.org/10.1515/pwp-2019-0009
Befragung Arbeitslosen-Monitor: Was sagen arbeitslose Menschen dazu?
„Über arbeitslose Menschen wird in den Medien viel gesprochen. Seltener kommen sie selbst zu Wort“, kritisiert Oliver Picek vom Momentum Institut. Im Rahmen des Arbeitslosen-Monitor des Momentum Instituts (Momentum Institut, 2021) hat er zusammen mit Kelleg*innen (Auch vom SORA Institut) 1200 arbeitslose Menschen repräsentativ befragt. Die Ergebnisse würden einerseits die prekäre finanzielle Situation der Arbeitslosen zeigen. Andererseits liefern sie konkrete Aspekte zu aktuellen Reformvorschlägen beim Arbeitslosengeld, so Picek. Ein aktuell kursierender Vorschlag sei, die Abschaffung des Zuverdiensts neben dem Arbeitslosengeld, der Arbeitslose zu einer aktiveren Suche nach Stellen motivieren solle. Doch unter den befragten Arbeitslosen mit und ohne Zuverdienst lasse sich kein Unterschied in der Suchintensität feststellen: „Fast alle suchen einen regulären Job. Die finanzielle Situation der arbeitslosen Menschen ist generell äußerst angespannt.“, ergänzt Picek. Mehr als neun von zehn arbeitslosen Menschen würden ein Einkommen erhalten, das unter der Armutsgrenze für eine Person liegt. Die Armuts-gefährdung liege unter Arbeitslosen über drei Mal so hoch wie unter Beschäftigten. Drei Viertel der Arbeitslosen können keine unerwarteten Ausgaben von über 1300 Euro tätigen. „Eine Senkung der Ersatzrate des Arbeitslosengelds würde diese Situation noch verschlimmern“, konkludiert Picek.
Quellen:
Momentum Institut (2021): Acht von zehn Arbeitslosen verloren Job unfreiwillig, URL: https://www.momentum-institut.at/arbeitslosen-monitor, abgerufen am 02.02.2022
Picek, Oliver (2020): Vortrag: „Gestaltung von Arbeitsanreizen in der Arbeitslosigkeit – Argumentationen und Evidenzen“, URL: https://www.soz.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_soziologie/4_Veranstaltungen/4.0_Veranstaltungen/2021/Reformbedarf_am_Arbeitsmarkt/picek-converted.mp4, zuletzt abgerufen am 11.02.2022
Arbeitskräftemangel trotz Arbeitslosigkeit: (Wie) beeinflusst das Arbeitslosengeld die Relation von Angebot und Nachfrage?
Der österreichische Arbeitsmarkt ist entlang mehrerer Dimensionen segmentiert, sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite. Auf der Nachfrageseite sind mit den verschiedenen Wirtschaftsbereichen und Berufen unterschiedliche Anforderungen und Arbeitsbedingungen (Job-Charakteristika) verknüpft, stellt Stefan Vogtenhuber vom IHS fest. Neben dem in Österreich bedeutenden berufsfachlichen Segment bestehe auch eine anhaltend hohe und in absoluten Zahlen steigende Nachfrage nach Jobs in Hilfsberufen bzw. Hilfstätigkeiten. Auf der Angebotsseite sei ein markanter Trend seit der Finanz- und Wirtschaftskrise der überaus starke Anstieg der Langzeitbeschäftigungslosigkeit und damit die Zahl derer, die Notstandshilfe beziehen. Dies gehe einher mit einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit bei den Geringqualifizierten und bei Älteren. Die Diskussion um die Reform der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsmarktpolitik sollte – so Vogtenhuer – diese mit den unterschiedlichen Ausgangslagen und Dynamiken verbundenen spezifischen Problemlagen berücksichtigen.
Quelle:
Vogtenhuber, Stefan, Baumegger, David, Lassnigg, Lorenz (2017): Arbeitskräfteangebot und Nachfrage: Verdrängung durch Bildungsexpansion?, URL:
Anreizeffekte der österreichischen Arbeitslosenversicherung für Dienstgeber*innen und Dienstnehmer*innen
Das Ziel der staatlichen Arbeitslosenversicherung ist es Einkommenseinbußen durch Arbeitsplatzverluste auszugleichen. Die optimale Gestaltung des Systems beruht auf einem Spagat zwischen Versicherungsleistung und negativen Anreizen zur Arbeitsplatzsuche, dem sogenannten Moral Hazard, sagt Andrea Weber von der Central European University, die sich u.a. mit den Anreizeffekten der Arbeitslosenversicherung befasst. Mehrere empirische Studien untersuchen die Anreizwirkungen im österreichischen Arbeitslosenversicherungssystem. Weber fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen: (1) großzügigere Beihilfen führen zu längeren Arbeitslosendauern, (2) Arbeitslose passen ihr Suchverhalten über die Zeit an um auf längere Beihilfenbezugsdauern zu reagieren (3) längere Beihilfen erlauben den Arbeitslosen nach besseren Jobs zu suchen und führen dadurch zu höheren Löhnen, (4) auch Firmen reagieren mit Kündigungen auf potentielle Arbeitslosengeldansprüche ihrer Dienstnehmerinnen.
Quelle:
Weber Andrea (2021): „Anreizeffekte der österreichischen Arbeitslosenversicherung für Dienstgeber*innen und Dienstnehmer*innen“, URL: https://www.soz.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_soziologie/4_Veranstaltungen/4.0_Veranstaltungen/2021/Reformbedarf_am_Arbeitsmarkt/weber-converted.mp4, zuletzt abgerufen am 11.02.2022
[1] Böheim et al (2017): Die Auswirkungen einer Verbesserung der Betreuungsrelation für Arbeitslose in der Arbeitsvermittlung des AMS, URL: https://www.wifo.ac.at/publikationen/studien?detail-view=yes&publikation_id=61297, abgerufen am 02.03.2022