EU-Mercosur-Abkommen – wissenschaftliche Evidenzen, dass Freihandel ökologisch und sozial nicht nachhaltig ist
Expert*innen
Univ.-Prof. Dr. Ulrich Brand
(Universität Wien) ulrich.brand@univie.ac.at
Dr.in Karin Fischer
(JKU Linz)
karin.fischer@jku.at
Ao. Univ.-Prof. Dr. Dr. Andreas Novy
(WU Wien)
andreas.novy@wu.ac.at
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Dr. Alexander Behr
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Pressemitteilung
Wien, 19. August 2020
Die Corona-Pandemie und die weltweiten Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben die Fragilität und Instabilität globaler Handels- und Lieferketten eindrucksvoll bloßgelegt. Die Wirtschaftskrise wird wohl noch länger andauern. Doch es werden auch gesellschaftspolitische Forderungen stärker wahrgenommen, den globalen wirtschaftlichen Austausch fairer und gerechter zu gestalten. Und im Zuge der Klimakrise muss der bislang ressourcenintensive und klimaschädliche Globalisierungsprozess ohnehin verändert werden. Das zeigen auch wissenschaftliche Studien.
Zentral ist dabei die Handelspolitik. Das seit 1999 verhandelte und seit 2019 vor dem Abschluss stehende Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Ländern (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) wird aktuell breit diskutiert. Letzten Freitag demonstrierte Fridays for Future weltweit in über 30 Ländern mit zahlreichen NGOs für den Amazonas und gegen das Abkommen mit den Mercosurstaaten. Kritik an dem Abkommen kommt nicht nur von NGO’s und Indigenen-Organisationen. Auch eine Reihe von Wissenschafter*innen melden massive evidenzbasierte Bedenken dagegen an.
„Das EU-Mercosur-Abkommen genügt nicht den Anforderungen an eine zeitgemäße, das heißt sozial und ökologisch ausgerichtete Handelspolitik. Es ist noch vollständig vom alten Geist eines Freihandels durchdrungen, der das Primat der Ökonomie über ökologische Probleme und menschenrechtliche Bedenken stellt“, sagt Univ.-Prof. Dr. Andreas Novy, Leiter des Institute for Multi-Level Governance and Development an der WU-WienundKuratoriumsvorsitzender Aufsichtsratsvorsitzender der ÖFSE (Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE). Obwohl bereits einige EU-Länder,wie Österreich, Belgien, Frankreich, Irland und die Niederlande angekündigt haben, dem Abkommen in seiner jetzigen Form ihre Zustimmung zu verweigern, will die deutsche EU-Präsidentschaft den Abschluss vorantreiben. Nicht ohne Grund, denn die deutsche Auto- und Chemieindustrie würde von dem Abkommen in besonderem Maße profitieren. Schließlich handelt es sich beim Mercosur um einen riesigen Markt, der 75% des gesamten BIP des südamerikanischen Kontinents erwirtschaftet.
Dr. Karin Fischer, Leiterin des Arbeitsbereichs Globale Soziologie und Entwicklungsforschung der JKU Linz, kritisiert das Abkommen aus entwicklungspolitischer und ökologischer Sicht: „Im Mercosur-Abkommen wird deutlich, dass Freihandel als Recht des Stärkeren konzipiert ist. Während Mercosur-Länder sich für den Import von Industriegütern aus der EU öffnen müssen, beharrt die EU auf den Schutz ihrer Agrarerzeugnisse. Europäische Autohersteller, Maschinenbauer und Chemiekonzerne sind die großen Nutznießer, weil sie zollfreien Marktzugang erhalten. Die Länder des Mercosur sollen billige Zitrusfrüchte, Soja als Tierfutter und Agrartreibstoffe aus Zuckerrohr in die EU liefern. Das verschärft die ökologische Ungleichheit. Denn während Österreich 2019 Glyphosat verboten hat und der Einsatz des Unkrautvernichtungsmittels EU-weit auslaufen soll, liegt Brasilien gemessen an der konsumierten Menge an Agrargiften weltweit auf Platz eins. In Argentinien ist mit sechs Kilogramm Glyphosat pro EinwohnerIn die Exposition von Glyphosat am höchsten, gefolgt von Brasilien mit drei Kilogramm. Während wir gesunde Lebensmittel hochhalten, leiden die Betroffenen in den Anbauregionen des Mercosur unter Gesundheitsschäden und Wasserverseuchung.“
Auch zeigen Studien, dass die Ausweitung der exportorientierten Agrarproduktion für einen Großteil der Abholzungen und (Brand)Rodungen des klimawichtigen tropischen Regenwaldes verantwortlich ist. Das Gemeinsame Forschungszentrum der EU konstatiert etwa, dass die Ausweitung des Sojaanbaus in Brasilien zur direkten Entwaldung der Regenwälder beiträgt und auch indirekt durch Verdrängung der Viehwirtschaft nach Norden, sodass das Land die Reduktionsziele für Treibhausgase des Pariser Abkommens verfehlen wird2. Das Freihandelsabkommen wird den exportorientierten Sojaanbau weiter ankurbeln.
Eine internationale Studie weist nach, dass 9% der Abholzung des Amazonas-Regenwalds in Brasilien zwischen 2005 und 2015 auf das Konto des Bergbaus geht, was einer Fläche von fast 12.000 km2 entspricht3. Ein (zu) hoher Preis für die billigen Rohstoffe, die sich die europäische Industrie vom Mercosur-Abkommen verspricht. Eine Studie der Universität Sao Paulo belegt, dass 30% der 2017 in Brasilien zugelassenen Pestizidwirkstoffe in der EU verboten oder nicht zugelassen sind.4 Dorthin exportiert werden können sie jedoch von europäischen Produzenten weiterhin. Diese Evidenzen haben dazu geführt, dass über 600 europäische Wissenschafter*innen in einem in der Zeitschrift Science veröffentlichten Aufruf kritisieren, dass die EU 2017 mehr als drei Mrd. Dollar für Eisenerzimporte ausgab und die 2011 importierten Fleischlieferungen der Entwaldung von mehr als 10.000 km2 , also in etwa der Fläche von Kärnten entsprechen. Sie fordern die Europäische Union daher mit Blick auf Brasilien dringlich auf, Anstrengungen für nachhaltige Handelsbeziehungen aufzunehmen und ihre Verpflichtung zu Menschenrechten, Ökologie und Klimaschutz einzuhalten. Denn neben den verheerenden Umweltauswirkungen geht mit der Entwaldung und dem Ausbau landwirtschaftlicher Anbauflächen und Bergbauprojekten die menschenrechtswidrige Verdrängung indigener Bevölkerungsgruppen einher. Das würde mit dem EU-Mercosur-Abkommen weiter verschlimmert werden.
Auch für Andreas Novy ist gerade die Entwicklung in Brasilien hoch problematisch: „Die brasilianische Regierung ist weltweit im Rampenlicht wegen ihrer katastrophalen Politik im Umgang mit Covid-19, mit den Rodungen im Regenwald und der Missachtung von Menschenrechten allgemein und denjenigen der Indigenen im Besonderen. Die Agrarlobby ist bis heute eine wesentliche Stütze eben dieser Regierung und dieser Politik. Sie wäre gleichzeitig der große Profiteur eines EU-Mercosur-Abkommens. Rechtliche Zugeständnisse Brasiliens, auf die die deutsche Ratspräsidentschaft setzt, wären so viel wert, wie die brasilianische Regierung den Gesetzen und Verfassungsbestimmungen beimisst, die den eigenen kurzfristigen Interessen entgegenstehen – nämlich nichts.“
„Mit dem Mercosur-Freihandelsabkommen wird über billige, umweltschädlich erzeugte Agrarimporte das Umschwenken auf ökologische Landwirtschaft in Europa – eines der Ziele des EuropeanGreen New der EU-Kommission – erschwert und torpediert. Über die Externalisierung umweltschädlicher Produktionen in Länder des globalen Südens, wie dies das Mercosur-Abkommen anstrebt, kann der ökologische Fußabdruck nicht mehr gesenkt werden – zumindest wenn man die in der Wissenschaft inzwischen übliche Miteinberechnung der Importe berücksichtigt“, sagt Univ.-Prof. Dr. Ulrich Brand, Leiter des Forschungsverbunds Lateinamerika an der Universität Wien. Allerdings, so Brand, gebe es auch wichtige Differenzen innerhalb des Mercosur. „Die argentinische Regierung will das Abkommen auch nicht unbedingt, weil sich damit ihre Handlungsfähigkeit verringert, um die Wirtschaft nach der Corona-Krise wieder aufzubauen.“ Gleichzeitig werden mit dem Abkommen ohnehin bereits geschwächte Wirtschaftssektoren in den Mercosur-Ländern weiter geschwächt und das Muster der für den globalen Süden nachteiligen Handelsbeziehungen (Tausch von Rohstoffen und Agrarerzeugnissen gegen Fertigprodukte)festgeschrieben.
„Das Abkommen wird vor allem von derjenigen Mercosur-Regierung vorangetrieben, die am wenigsten Interesse an Umwelt- und Sozialstandards hat, nämlich der brasilianischen“, so Karin Fischer.
Insofern lassen sich auch aus wissenschaftlicher Sicht triftige, evidenzbasierte Einwände gegen dieses Freihandelsabkommen vorbringen. Die österreichische Regierung sollte daher von der Ablehnung des Abkommens, die ihr vom Parlament auferlegt wurde, nicht abweichen.