Wo Arbeitskräfte gebraucht werden – Forschung zeigt Potenzial für Beschäftigung in sozialen Infrastrukturen

Downloads

Pressemitteilung
Wien, 18. September 2020

Die Arbeitslosigkeit ist durch die Corona-Krise dramatisch angestiegen. Prognosen deuten darauf hin, dass sich die schon vorher hohe Langzeitarbeitslosigkeit weiter erhöhen wird. Die angekündigte Qualifizierungsstratgieder Bunderegierung wird an Grenzenstoßen, weil es nicht genug Arbeitsplätze gibt, auf denen die Weitergebildeten dann eingesetzt werden können. Es braucht in der gegenwärtigen Arbeitsmarktkrise also auch Beschäftigungspolitik, d.h. das Schaffen von Arbeitsplätzen.Vor diesem Hintergrund ist auf den Bedarf an Arbeitskräften bei den öffentlichen und sozialen Infrastrukturen für Pflege, Bildung, Verkehr etc. hinzuweisen. Dies gerade in einer Situation wie der Corona-Pandemie, in der allen die große Bedeutungrobuster öffentlicher und sozialer Infrastrukturen vor Augen geführt wurde. Können diese nämlich schon im Normalbetrieb ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge oft nur schwererfüllen, sind sie im Krisenfall schnell überfordert und erschweren die Krisenbewältigung.
Auf beide Probleme, also die hohe Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit der Stärkung der Infrastrukturen, kann gemeinsam mit einer öffentlichen Beschäftigungspolitik reagiert werden. Denn schon lange wird darauf hingewiesen, dass in Bereichen wie Bildung und Pflege mehr Personal benötigt wird. Es ist deshalb von großem öffentlichem Interesse, wissenschaftlich abzuschätzen, wie groß dieser Personalbedarf ist. Darüber liegen Studien vor, die in der aktuellen Situation als Orientierung für politische Maßnahmen dienen können.

Pflege
Der Pflegebereich ist nicht erst in der Corona-Krise an seine Grenzen gestoßen. Untersuchungen über den Bereich der Pflege, konkret die mobile und stationäre Langzeitpflege, zeigen auf, dass der gegenwärtige und v.a. zukünftige Pflegebedarf mit den zurzeit darin Beschäftigten nicht bewältigt werden kann. Die stellvertretende Leiterin und Pflegeexpertin des WIFO, Ulrike Famira-Mühlberger, weist darauf hin, dass Pflegedienstleister zunehmend über Schwierigkeiten, Pflegepersonal für mobile und stationäre Dienste zu finden, berichten. Wie eine Schätzung auf Basis aktueller Projektionen zur Nachfrage nach Pflegedienstleistungen zeigt, werden im Bereich der mobilen und stationären Pflege und Betreuung bis 2030 rund 24.000 (Vollzeitäquivalente: 18.000) und bis 2050 79.000 (Vollzeitäquivalente: 58.000) zusätzliche Pflegekräfte benötigt. Im Mittelpunkt einer Pflegereform müssen deshalb neben Ausbildungs-und Umschulungsoffensiven Maßnahmen stehen, die den Pflegeberuf attraktiver machen.
Eine Studie des WIFO zeigt außerdem, dass jedem Euro, der für Pflegedienstleistungen ausgegeben wird, eine inländische Wertschöpfung von 1,7 Euro sowie 70 Cent an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen zugeordnet ist. Die wirtschaftlichen Multiplikatoren der Pflegedienstleistungen sind aufgrund des hohen Anteils von Löhnen und Gehältern an den direkten Ausgaben und der damit verbundenen hohen direkten Wertschöpfung vergleichsweise hoch. Öffentliche Ausgaben für professionelle Pflegedienste sollten dahernicht nur als Kostenfaktor im öffentlichen Haushalt betrachtet werden. Vielmehr ist dieser rasch wachsende Wirtschaftssektor auch ein zunehmend wichtiger Wirtschaftsfaktor in einer Zeit alternder Gesellschaften.

Bildung
Im Bildungssystem besteht ein Zusatzbedarf an (unterstützendem) Personal in Schulen (Schulsozialarbeit, Schulpsychologie, zusätzliche Lehrkräfte, Sozial-/FreizeitpädagogInnen, bis hin zu administrativem Personal, etwa an den Pflichtschulen). Barbara Herzog-Punzenberger, Professorin am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung der Universität Innsbruck präzisiert dazu: „Die Zusammensetzung der Klassen hinsichtlich der Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler ergibt sehr unterschiedliche Lernumgebungen für die einzelnen Kinder und Jugendlichen aber auch für die Lehrpersonen. Seit einem Jahrzehnt liegen Vorschläge von österreichischen Wissenschafter*innen vor, wie Schulen in herausfordernden Lagen unterstützt werden sollten. Diese brauchen unter anderem mehr Personal, dessen Quantität anhand eines sogenannten Sozialindex berechnet werden kann. Auf Basis der vorliegenden Daten liegen Schätzungen vor, die bezogen auf alle Schulformen und Schulstufen, von mindestens 10.000 zusätzlichen Vollzeitäquivalenten, also von mindestens 10% Mehrbedarf ausgehen, um den Schülerinnen und Schülern fairere Lern-und den Lehrpersonen faire Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.“

Kinderbetreuung
Eine Berechnung der Arbeiterkammer für die öffentliche Kinderbetreuung sieht einen Zusatzbedarf von 21.000 Vollzeitäquivalenten (Erhöhung der Betreuungsplätze für unter Dreijährige auf 40% bundesweit, Ausweitung der Öffnungszeiten auf Vollzeit, 2. kostenloses Kindergartenjahr, zusätzliche pädagogische Fachkraft). Allein in diesen drei wichtigen Bereichen der sozialen Infrastruktur wären das insgesamt 69.000 Arbeitsplätze in Vollzeitäquivalenten, die durch eine mutige öffentliche Beschäftigungspolitik geschaffen werden könnten.

Verkehr
Auch wenn es im Verkehrsbereich aufgrund seiner Komplexität schwierig ist, konkret Personalprognosen abzugeben, so erfordert der aufgrund des Klimawandels dringend notwendige Ausbau des öffentlichen Verkehrs auch mehr Personal, meint Jens Dangschat, Professor an der TU Wien: „Der Verkehrssektor ist der einzige, in dem die Emission von Treibhausgasen nicht nur nicht zurückgegangen, sondern im Gegenteil seit 1990 deutlich angestiegen ist und weiter steigt. Eine Verkehrswende ist daher notwendig, die auch eine Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs auf den öffentlichen Personenverkehr (ÖPV) beinhaltet. Um den ÖPV attraktiver zu machen, sollten vor allem die Taktintervalle des S-Bahn-und Regionalverkehrs im Berufspendelverkehr mindestens halbiert werden. Um im ländlichen Raum die Konkurrenzfähigkeit des ÖPV gegenüber dem Auto zustärken, müssen die Busse dort kleiner und flexibler eingesetzt werden (nach Bedarf und nicht nach Fahrplan und fixer Strecke -hohes Innovationspotenzial) -auch das erfordert mehr Personal.“

Insgesamt zeigt die Forschung der letzten Zeit, dass in den öffentlichen und sozialen Infrastrukturen ein großer Personalbedarf besteht. Das bedeutet, dass die sehr hohe Arbeitslosigkeit durch öffentliche Beschäftigungspolitik in Verbindung mit gezielten Umschulungen für diese neuen Stellen erheblich gesenkt werdenkann. Erfahrungen zeigen, dass solche Umschulungsprogramme eine erhöhte Erfolgswahrscheinlichkeit aufweisen, wenn am Ende der Bildungsmaßnahmen stabile Beschäftigungsmöglichkeiten in Aussicht stehen. Und diese Arbeitsplätze sind tatsächlich (krisen)sicher, attraktiv, nachhaltig (emissionsarm) und gesellschaftlich relevant. Mit einer an gesellschaftlichen Bedarfen ausgerichteten öffentlichen Beschäftigungspolitik könnten also drei gesellschaftlich wünschenswerte Ziele gleichzeitig angestrebt werden: die Arbeitslosigkeit zu senken, die Krisensicherheit der Gesellschaft zu erhöhen und die Qualität der sozialen Infrastrukturen und damit die Lebensqualität langfristig zu stärken.