Exzellent prekär: „Diese Uni wollen wir nicht mehr!“ (Presseaussendung, 20.04.2023)
Expert*innen
Tatjana Boczy (Uni Wien)
Ulrike Felt (Uni Wien)
Stephan Pühringer (JKU Linz)
Tilman Reitz (Uni Jena)
Angelika Schmidt (WU Wien)
Weitere Informationen zu den Expert*innen finden Sie im PDF.
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Danyal Maneka, MA
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„Diese Uni wollen wir nicht mehr!“, sagt das Netzwerk Unterbau Wissenschaft
Zwei Mal innerhalb von nur vier Monaten demonstrierten die Angestellten österreichischer Universitäten. Ende März folgten etwa 2.000 Personen dem Aufruf unter dem Motto „Fair statt prekär! Universität neu denken“, um für bessere Arbeitsbedingungen an österreichischen Universitäten einzutreten. Im Rahmen des Gründungsevents des Netzwerks Unterbau Wissenschaft (NUWiss) werden am 22. April 2023 gemeinsam mit Expert:innen und Interessensvertreter:innen Forderungen und Strategien für eine gesellschaftlich verantwortliche Universität der Zukunft diskutiert.
Seit dem Versuch der Reparatur des Paragraph 109 im Universitätsgesetz („Kettenvertragsregel“) mit der Novelle von 2021 finden österreichweit Podiumsdiskussionen, Vollversammlungen von Wissenschaftler:innen und verschiedene Protestaktionen gegen die Prekarisierung von Forschung und Lehre statt. Gerade weil öffentliche Proteste und Demonstrationen von Wissenschaftler:innen in Österreich kaum Tradition haben, ist die Intensität und Breite dieser Bewegung, die in vielen Bereichen von Studierendenvertretungen mitgetragen wird, doch überraschend – immer wieder betonen die Organisator:innen und Teilnehmer:innen an Protesten, dass sich in den letzten Jahren vieles an Frust und Enttäuschung angesammelt hat. In Deutschland sorgt gerade das ähnlich wie Paragraph 109 angelegte Wissenschaftszeitvertragsgesetz für Empörung. Beide Gesetze schaffen eine fast unreformierbare Grundprekarität: Nachdem sie für einen bestimmten Zeitraum (zurzeit sechs oder acht Jahre nach der Promotion) befristete Beschäftigung erlauben, folgt danach gewöhnlich keine Dauerstelle, sondern die stille Entsorgung: „Jede denkbare Obergrenze dieser Art beschädigt und zerstört massenhaft wissenschaftliche Lebensläufe“, meint Tilman Reitz.
Was plant das Netzwerk Unterbau Wissenschaft für den 22. April 2023?
NUWiss wurde 2022 gegründet, um österreichweit und disziplinenübergreifend eine Vernetzungsplattform für die vielen Wissenschaftler:innen und Künstler:innen zu bieten, die in besonderer Weise von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen sind. Seit der Gründung hat NUWiss einen enormen Zulauf erhalten, nicht zuletzt da in Österreich mehr als 34.000 und somit etwa 80% des künstlerischen und wissenschaftlichen Personals befristet angestellt und damit von der Kettenvertragsregel betroffen sind. Im Rahmen der ganztägigen Gründungs-Veranstaltung von NUWiss werden gemeinsam mit anderen Organisationen und Initiativen Forderungen und Strategien für demokratische Universitäten mit fairen Arbeitsbedingungen entwickelt. Am Vormittag wird Tilman Reitz, Soziologe der Uni Jena und Vertreter des deutschen Schwesternetzwerk NGAWiss, dessen Anliegen durch Initiativen wie „Frist ist Frust“ und #ichbinHannah deutschlandweit bekannt wurden, einen Vortrag halten mit dem Titel: “Überwachung, Bestrafung und das Problem der Professur. Die Gründe befristeter Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft”. NUWiss und lokale Unterbau-Initiativen an der Uni Wien, der TU Wien, der Uni Graz und der Uni Linz werden sich vorstellen, bevor wir am Nachmittag in Workshops Forderungen und Strategien für eine Universität mit besseren Arbeitsbedingungen ausarbeiten. Eine Podiumsdiskussion am Abend mit Angelika Schmidt, Organisationsforscherin und Vertreterin der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Ulrike Felt, international ausgewiesene Expertin für Wissenschaftsforschung an der Uni Wien, Tilman Reitz und Stephan Pühringer, JKU Linz und Gründungsmitglied von NUWiss, ist als Abschlussevent mit anschließender Pressekonferenz geplant.
“Warum Angst und permanente Stressbelastung ein guter Nährboden für innovative Forschung sein sollen, konnte mir noch niemand erklären“ (Stephan Pühringer)
Die aktuell gängige Praxis an vielen Universitäten Vollzeitleistung zu fordern, aber nur Teilzeit anzustellen, hat viele junge Wissenschaftler:innen in prekäre Lebenssituationen gebracht. Forschende und Lehrende mit Betreuungspflichten, sowie im Wissenschaftsbetrieb unterrepräsentierte und strukturell diskriminierte Gruppen (etwa auf Grund von Geschlecht, Sexualität, Migrationserfahrung oder sozio-ökonomischem Status) werden dadurch besonders stark benachteiligt und in vielen Fällen zum Ausstieg aus dem Wissenschaftssystem gedrängt. Die Prekarisierung wirkt als gläserne Decke und sozialer Filter für wissenschaftliche Karrieren an österreichischen Universitäten: „Die derzeitigen sehr eingeschränkten Karriereperspektiven führen dazu, dass viele junge Wissenschafter:innen – insbesondere Frauen – nach dem Erwerb des Doktorats nicht mehr weiter das ständig erlebte Risiko tragen wollen“, stellt Angelika Schmidt fest. Überdies führt enorme und innovationshemmende individuelle Konkurrenzdruck zu einer im Vergleich zu anderen Berufsgruppen überproportional hohen psychischen und physischen Belastung der Betroffenen. Studien in renommierten Fachzeitschriften haben jüngst gezeigt, dass die psychische Stressbelastung in der Wissenschaft überdurchschnittlich hoch ist. Etwa die Hälfte von 7.600 befragten Post-Docs über Disziplinen und Länder hinweg gab an, bereits psychologische Unterstützung in Anspruch genommen zu haben oder dies in Erwägung zu ziehen. Zudem ist das Risiko für Depressionen oder Angststörungen unter Wissenschaftler:innen sechs Mal höher als im Bevölkerungsschnitt. Ob Angst und Stress ein guter Nährboden für innovative Forschung sind, darf bezweifelt werden, meint Pühringer. Vielmehr brauche exzellente Forschung und Lehre Zeit und Rahmenbedingungen, in denen kreativ und ergebnisoffen geforscht werden kann. Nicht zuletzt werde durch diese strukturellen Missstände letztlich auch der österreichische Wissenschaftsstandort gefährdet, wie kürzlich in einer WIFO-Studie gezeigt wurde.
„Wir sind gefangen im Verantwortungskarussel zwischen Ministerium, Rektoraten und Politik“ (Tatjana Boczy, NUWiss)
Viel zu lange wurde die Verantwortung für die existierenden Missstände zwischen Politik und Universitätsleitungen hin- und hergeschoben – letztlich immer auf dem Rücken der prekär beschäftigten Wissenschaftler:innen, meint Tatjana Bozy. Dass Forschung und Lehre in Österreich trotzdem noch hohe Qualität aufweisen, ist nur durch den persönlichen Einsatz, die Begeisterung und die Selbstausbeutung vieler Wissenschaftler:innen erklärbar. Auf solchen Zuständen lässt sich kein gutes Hochschulsystem bauen. Angesichts sich überlagernder ökologischer, sozialer und ökonomischer Problemlagen ist die Frage wie wir unsere Gesellschaft und Wirtschaft neu denken und gestalten wollen, wichtiger denn je! Dazu braucht es allerdings Rahmenbedingungen, in denen kritische Perspektiven und zukunftsgerichtete, kreative Herangehensweisen entwickelt werden können. Das beinhaltet zum einen demokratische Strukturen und Gestaltungsmöglichkeiten für alle an Universitäten tätige Personen und zum anderen die Entprekarisierung von Arbeitsverhältnissen wissenschaftlicher Mitarbeiter:innen. „Wir brauchen Institute oder Departments, an denen promovierte Wissenschaftler:innen dauerhaft beschäftigt, selbstbestimmt und unabhängig von professoraler Weisungsmacht zusammenarbeiten können“, so Tilman Reitz.
„Gleiches Arbeitsrecht für alle – auch für Wissenschaftler:innen! – ist das wirklich undenkbar?“
Kurzfristige Arbeitsverhältnisse dürfen – wie auch im allgemeinen österreichischen Arbeitsrecht festgelegt – auch an Universitäten nur mehr die Ausnahme und nicht länger der Normalfall sein! Wir fordern daher die ersatzlose Streichung des §109 UG („Kettenvertragsregel“) und somit die Gültigkeit des allgemeinen Arbeitsrechts auch für Wissenschaftler:innen an österreichischen Universitäten. Nach dem Motto „gleiches Arbeitsrecht für alle“ fordern wir Ministerium und Unileitungen auf, eine zukunftsgerichtete Beschäftigungskultur mit unbefristeten Verträgen zu etablieren! „Arbeiten in der Wissenschaft darf nicht mehr länger ein „Drahtseilakt ohne Netz“ darstellen“, meint dazu Angelika Schmidt.