Erfahrungen aus Deutschland und den USA
Eine in der österreichischen Reformdebatte häufig vertretene Annahme lautet, dass ein restriktiverer Umgang mit Arbeitslosen Beschäftigung fördert. Um diese Annahme differenziert zu beleuchten, lohnt sich ein Blick auf die Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen der Sozialstaat im Allgemeinen und die Arbeitslosenhilfe im Besonderen restriktiver und „aktivierender“ gestaltet sind als in Österreich. Zwei Fälle werden im Folgenden genauer betrachtet: die Hartz-Reformen in Deutschland und der Arbeitskräftemangel in den USA.
Haben sich die Versprechen erfüllt? Eine Bilanz der Hartz-Gesetze
Gerhard Bosch, Arbeitssoziologe an der Universität Duisburg Essen hat sich eingehend mit den Folgen der deutschen Hartz-Reformen befasst. Ihm zufolge ist mit den Hartz-Gesetzen eine bessere Balance zwischen Fördern und Fordern und eine Halbierung der Arbeitslosigkeit versprochen worden. Das sollte mit einer Kombination angebotsorientierter Maßnahmen erreicht werden, die von der Ausweitung von Mini-Jobs und Leiharbeit über die Abschaffung der einkommensbezogenen Arbeitslosenhilfe, eine Kürzung der Dauer des Arbeitslosengeldbezugs, eine Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen bis hin zu neuen finanziell schlechter als ihre Vorgänger ausgestattete 1€uro-Jobs reichten. Hinzu kam eine Verwaltungsmodernisierung, gegen die Bosch zufolge an sich nichts einzuwenden ist. Versprochen waren jedoch Leistungen aus einer Hand. Stattdessen wurde für Langzeitarbeitslose ein gesondertes System geschaffen.
Die Philosophie der Hartz-Gesetze war Bosch zu Folge diese: es gibt ausreichend Jobs, die Lohnansprüche sind aber zu hoch und die Arbeitsmarktpolitik muss die Vermittlung in den neuen Niedriglohnsektor organisieren. Man habe aber übersehen, dass Deutschland vor der Verabschiedung der Hartz-Gesetze infolge der Erosion der Tarifbindung bereits einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa hatte. Der hohe Beschäftigungszuwachs in den beiden letzten Jahrzehnten sei nicht Folge der Hartz-Gesetze, sondern vor allem des Exportüberschusses der Hochlohnbranchen des verarbeitenden Gewerbes. Die fast völlige Einstellung der abschlussbezogenen Weiterbildung habe den Fachkräftemangel verschärft. Mittlerweile habe man sich stillschweigend vom Work-First-Ansatz der Hartz-Gesetze zugunsten des Train-First-Ansatzes verabschiedet. Die Hartz-Gesetze haben die Polarisierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt verschärft, so Bosch: Die Arbeitsmarktpolitik wurde zum Erfüllungshilfen des Niedriglohnsektors. „Die arbeitslosen Fachkräfte, die trotz langer Erwerbsbiographen in Hartz IV endeten, verloren ihren Glauben an den Sozialstaat. Zudem haben viele Beschäftigte berechtigte Ängste vor dem digitalen und ökologischen Strukturwandel, da Betriebswechsel oft mit drastischen Lohneinbußen verbunden sind.“ Zur Bekämpfung der größten Missstände wurde 2014 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Entgegen den Horrorprognosen der neoliberalen deutschen Ökonomen habe er jedoch keinerlei negative Beschäftigungseffekte gehabt. Damit sei auch nachträglich die These, dass neue Jobs nur durch Lohnsenkungen geschaffen werden, eindrucksvoll widerlegt worden. Die Beschäftigungsquote gering qualifizierter sei kaum gestiegen, was zeigt, dass man Qualifikationsprobleme nicht – wie in den neoliberalen Lohnmodellen – durch Lohnsenkungen kompensieren könne.
Angesichts der steigenden Qualifikationsanforderungen und des Fachkräftemangels plädiert Bosch für eine „investive Arbeitsmarktpolitik“. Zur Verringerung der gesellschaftlichen Spaltung müssten prekäre Beschäftigungsverhältnisse re-reguliert, der Absturz von langjährig Versicherten auf Hartz IV verhindert und die Tarifbindung wieder erhöht werden.
Quelle:
Bosch, Gerhard (2021): Vortrag: Haben sich die Versprechen erfüllt? Eine Bilanz der Hartz-Gesetze, URL: https://www.youtube.com/watch?v=O0gmyG_fYIQ, zuletzt abgerufen am 11.02.2022
Warum verlassen US-amerikanische Beschäftigte den Arbeitsmarkt? Arbeitslosengeld und Arbeitsmarktübergänge in der Pandemie
In den USA zeigt sich in den letzten Jahren eine paradoxe Entwicklung. Einerseits ist die Arbeitslosigkeit im Zuge der Pandemie rapide angestiegen, andererseits beklagen viele Arbeitgeber*innen einen Mangel an Arbeitskräften. Häufig wird argumentiert, dass hierfür das im Zuge der Corona-Krise für US-amerikanische Verhältnisse großzügig ausgestaltete System der US-Arbeitslosensicherung verantwortlich sei, da es negative Anreize setze. Ian Greer, Arbeitsmarktforscher an der Cornell University, hat sich mit dem US-amerikanischen Arbeitslosensicherungssystem in den USA während der Corona-Pandemie befasst und liefert eine andere Interpretation. Während der Corona-Pandemie sei das US-Arbeitslosenversicherungssystem tatsächlich inklusiver und großzügiger denn je geworden. Das CARES-Gesetz vom März 2020 habe eine neue Leistung für Millionen von Arbeitnehmer*innen geschaffen, die vorher ausgeschlossen waren; habe eine erhebliche wöchentliche Aufstockung von $600 eingeführt; 13 zusätzliche Wochen von Leistungen hinzugefügt; Bundessteuergelder für das normalerweise von Arbeitgebern finanzierte System zur Verfügung gestellt; und andere Beschränkungen wie Wartewochen und Anforderung an der Arbeitssuche reduziert. Im Sommer 2021 allerdings beendeten 26 Bundesstaaten die Pandemieleistungen vorzeitig, und im September ließ die Bundesregierung sie ganz auslaufen, wodurch die Leistungen für Millionen Bezieher*innen beendet wurden. Die politischen Entscheidungsträger*innen argumentierten, so Greer, dass zu einer Zeit von Arbeitskräftemangel negative Anreize zur Arbeit abgeschafft werden sollten. Diese Änderung der Anreizstruktur habe jedoch nichts daran geändert, dass während der Pandemie drei Millionen Menschen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind. Die Arbeitslosenquote sei zwar niedrig, aber die Arbeitsmarktbeteiligung nehme kaum zu.
Warum führt die Kürzung des Arbeitslosengeldes nicht zu einer Erhöhung des Arbeitskräfteangebots?
Auf der Grundlage von Interviews mit Dutzenden von Arbeitgeber*innen, Arbeitslosen und anderen Expert*innen während der Pandemie benennt Ian Greer Gründe dafür, warum Arbeitnehmer*innen, die das Erwerbsleben verlassen haben, Schwierigkeiten beim Wiedereinstieg haben. Der erste Grund liege in einer mangelnden physischen Infrastruktur: Neben kurzfristigen Problemen wie der pandemiebedingten Schließung von Gesundheits- und Kinderbetreuungseinrichtungen seien längerfristige Probleme wie ein mangelhafter öffentlichen Verkehr, hohe Wohnkosten in den Städten und fehlenden Breitband-Infrastruktur ausschlaggebend. Zudem würden Bildungseinrichtungen und Arbeitgeber viel zu wenig in Ausbildung investieren.
Weitere Barrieren sieht Greer bei der Jobqualität: Niedrige Löhne (v.a. von Schwarzen) seien ein wichtiges Problem, gleichzeitig zeige sich, dass Lohnerhöhungen oft nicht ausreichen. Ein Problem sei, dass viele Jobs (z.B. im Handel und der Gastronomie) nicht von zu Hause verrichtet werden können, weshalb viele diese Tätigkeiten aus Furcht vor einer Ansteckung ablehnen. Auch bei der Arbeitszeit gebe es Probleme. Diese sei häufig zu lang, zu kurz oder zu wenig flexibel, was v.a. für Frauen mit Kindern ein Problem darstelle. Dazu kämen weitere Probleme wie die Instabilität von Arbeitsverhältnissen („hire and fire“) oder die pandemiebedingte Befristung von Stellen.
Österreich könne – so Greer – von der Situation in den USA lernen, dass ein schwacher Sozialstaat nicht notwendigerweise zu hoher Beschäftigung und niedriger Arbeitslosigkeit führt.
Quelle:
Greer, Ian (2021): Vortrag: „Warum verlassen US-amerikanische Beschäftigte den Arbeitsmarkt? Arbeitslosengeld und Arbeitsmarktübergänge in der Pandemie“, URL: https://www.soz.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_soziologie/4_Veranstaltungen/4.0_Veranstaltungen/2021/Reformbedarf_am_Arbeitsmarkt/ian_greer-converted.mp4